Traum-taenzerisches Theater vor und hinter den Spiegeln - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.10.2006


Traum-taenzerisches Theater vor und hinter den Spiegeln
Christiane Frettloeh

ALICES TRAUM von THIKWA zur Eroeffnung des Theaterfestivals NO LIMITS




Wie schon seit zwei Jahren bietet das Festival NO LIMITS auch 2006 die seltene Gelegenheit, einen Zwischenbereich des Theaters im europaeischen Raum - naemlich Inszenierungen von Ensembles, die zum groeßten Teil aus "behinderten" und professionellen SchauspielerInnen bestehen - zu erleben und sich an ihren außerhalb der Normen angesiedelten Produktionen und deren verrueckten Botschaften zu erfreuen.

Aus England, Frankreich, Italien, Belgien, Polen, den Niederlanden und der Schweiz haben sich die Theatertruppen auf den Weg nach Berlin gemacht und stellen ihre Arbeiten vom 18. bis 28. Oktober 2006 an verschiedenen Spielstaetten vor.

Die Premiere dieses Festivals wird bestritten von dem in Berlin ansaessigen Theater Thikwa. Geistig und koerperlich behinderte Erwachsene arbeiten hier seit vielen Jahren mit professionellen SchauspielerInnen und TaenzerInnen zusammen.

Schon der Name der Truppe - "thikwa" bedeutet im Hebraeischen "Hoffnung, etwas zu loesen" - ist programmatisch. Thikwa: ein Labor fuer das Entwickeln einer anderen, einer grenzgaengerischen AEsthetik mit dem erklaerten Ziel der "Heimsuchung des Genres Theater mit neuen produktiven Fragestellungen" (Gerlinde Altenmueller, Leiterin des Theaters) und ein ungewoehnliches Konzept der Integration.

Neue Stuecke werden hier erarbeitet, indem das Ensemble Texte (in den letzten Jahren vor allem solche aus dem 19. Jahrhundert) gemeinsam liest, dazu malt und Textcollagen erstellt, also das Eigene sehr frei aus der Vorlage entwickelt, bevor es auf der Buehne umgesetzt wird.

So war es auch mit Edgar Allen Poes Erzaehlung "Die Methode Dr. Thaer und Professor Fedders", aus dessen Lektuere die Inszenierung MAISON DE LA SANTÉ entstanden ist. Hier ist das zentrale Thema "Normen und Abweichungen" - ein Problemfeld, das dem Ensemble quasi auf den Leib geschrieben ist und in allen seinen Stuecken thematisiert wird.
Nicht erst seit der Produktion MAISON DE LA SANTÉ muendet die Arbeitsweise oft in eine Art Bilder-Stationen-Drama, weil der Text dem Koerpertheater ungeordnet wird.

Unter der AeEgide von Timothy Golliher, der zum ersten Mal als Regisseur mit Thikwa arbeitet und eigens fuer diese Produktion aus Kalifornien gekommen ist, wurden Texte des britischen "Nonsense" - Autors Carroll rezipiert unter dem Aspekt Repression und Regelverletzung, also zwischen den Zeilen gelesen und traum-taenzerisch umgesetzt.

Es geht der Inszenierung darum, erfahrbar zu machen, dass Regeln, die nicht durchschaubar sind, durchbrochen werden (muessen), zumal wenn den Agierenden das Bewußtsein von deren Legitimitaet fehlt. So sind oft Regelbrueche und daraus folgende Repressionen behinderten Menschen nicht verstehbar. Carrolls Figuren aus dem Zwischenreich von Schlaf, Traum und Vernunft brechen Normen und Naturgesetze auf einer surrealen Ebene. Anders die AkteurInnen von Thikwa, wenn sie "spielen". Denn die Sanktionierung von Normbruechen entspricht ihrer Alltagserfahrung, ist also der existenzielle Anknuepfungspunkt fuer ihre Aneignung des Textes.

Neu an der Inszenierung ALICES TRAUM ist vor allem der Entstehungszusammenhang. Der Choreograph und Taenzer Timothy Golliher lernte das Ensemble zunaechst als Trainer fuer Tanz - einem der staendigen Faecher auf dem Stundenplan der Truppe - kennen und schaetzen und hat sich auf die Herausforderung eines wechselseitigen Lernprozesses eingelassen.

Auf seiner Seite voellig außerhalb des UEblichen kommunizierende und reagierende Schauspieler, die sich seinem harten Training dennoch gestellt haben - auf der Seite der Ensemblemitglieder ein unerwartet fruchtbarer gruppendynamischer Prozess, in dem bestehende (Macht-)Konflikte und verquere Beziehungsmuster umgesetzt werden konnten in Spielfreude und praezise Koerperarbeit.

Dies wird eindrucksvoll erfahrbar in dem Maennerduell, einer Sequenz, die frei von der Vorlage aus der Probenarbeit heraus entstanden ist. In dem Kampf zwischen Peter Pankow, der als Verkoerperung des Siegers in seiner ganzen Koerperfuelle wie ein Sumoringer auf die Buehne springt, und Torsten Holzapfel, dem in die Raupe verwandelten Wasserpfeife rauchenden entrueckten Abbild eines kiffenden John Lennon, den er zum Zweikampf fordert, weil dieser ihn aus seinen Traeumen herausgerissen hat, kommt es zu einer Pruegelszene, die in der Commedia dell`arte nicht farbiger sein koennte.

Carrolls Texte, gegen den Strich und zwischen den Zeilen gelesen, werden entfaltet als Tanz-Theater-Collage in sieben Sequenzen. Zum Ankommen im "Wunderland" werden den ZuschauerInnen malerische und grafische Umsetzungen des Themas, entstanden bei der Erarbeitung der Produktion, als Bildprojektionen praesentiert: expressive Malereien von wilder Farbigkeit und skurrile Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Dazu eine subtile Toncollage mit Elementen von Satie, Paert und aegyptischer Musik, die imaginaere innere Raeume eroeffnet.

In der bewegten, temporeich gespielten Bilderfolge ist es gelungen, die Zeit- und Realitaetsebenen ebenso durcheinander zu wirbeln, wie den Zuschauenden das Raetsel aufzugeben, wer sich in diesem Theater eigentlich vor bzw. hinter den Spiegeln aufhaelt.

Lewis Carroll, als creator spiritus, ist in der Person des halbseitig gelaehmten Tim Petersen, der den Figuren Leben einhaucht, auf der Buehne immer praesent. Dem Autor und seiner schillernden unangepassten Persoenlichkeit wird im "Puppenbild" gehuldigt, wenn Petersen als selbstverliebter Dandy ein Maedchen in Pose setzt und fotografiert. Alice selbst wird verkoerpert von der aus Italien stammenden hinreißenden Taenzerin Silvia Ventura, die ihren Traum-Abenteuern mal wild kindlichen, mal kaprizioes verspielten Ausdruck verleiht.

In der Eingangssequenz erweckt die an Sterntaler erinnernde Alice die als lebende Blumenbilder am Boden kauernden SchauspielerInnen aus dem Traum-Schlaf. Den ZuschauerInnen ergeht es wie ihr, die ihren Augen nicht trauen zu koennen glaubt: Die verraetselten und zugleich raetselhaften Kreaturen in ihrem scheinbar unsinnigen Verhalten schlagen sie in ihren Bann.

So kann das sich Publikum bei der Begegnung mit all den aus dem Kinderbuch erinnerten Fabelwesen (Mad Hatter, Humpty Dumpty, Tweedledee, dem Schlaftier, den sprechenden Hasen und lebendigen SchachbrettkoenigInnen) fallen lassen in eine scheinbar schwerelose Welt und wird zugleich erschrecken ueber deren verwirrende Widerspruechlichkeit.

Es scheint immer "zu spaet" zu sein fuer das in jedem Augenblick "richtige" Verhalten. Immer reißt der Misston eines aeußeren Zeitgebers die Figuren aus ihrem eigenen Zeiterleben. Schrilles Weckerklingeln beendet in vielen Sequenzen abrupt das Spiel der Figuren und laesst sie erstarren, als seien sie ferngesteuerte Automaten.

Wie der erste den wilden Reigen eroeffnende Hase, der den Buehnenboden erkundet, ob er denn auch traegt, und sich seiner selbst vergewissert, muss auch die Zuschauerin sich fragen: "Wer bin ich denn? Ein Wesen? Ein Traum? Ein Kind? Ein Tier? Ein Lebewesen?" Der Hase jedenfalls - kongenial besetzt mit Torsten Holzapfel - kann das Befremden ueber sich selbst nicht aufloesen: "Ich seh` so komisch aus. Das passt doch nicht!"

Alles in allem: eine sehr facettenreiche Adaption Carrollscher Texte, umgesetzt in ein schillerndes Gesamtkunstwerk - in einer traumwandlerischen Choreographie, wie sie von Thikwa bekannt ist und immer wieder bezaubert und zugleich das "normale" Empfinden herausfordert. Die unterlegten Toncollagen bzw. Soundtracks bewirken ein Uebriges.

Dass dieses Theaterfestival hier stattfindet und die AkteurInnen aus der Nische und Sackgasse der sozial-therapeutischen Arbeit mit Menschen, die in unserer Gesell-schaft keine nennenswerte Lobby haben, heraustreten laesst ins Rampenlicht, koennte fuer das Berliner Publikum Anlass sein, sich dem Vergnuegen an der eigensinnigen Aesthetik internationaler Ensembles hinzugeben und vielleicht sogar neue Erfahrungen zu machen mit sogenannten "Behinderten".

www.no-limits-festival.de.
18.-28.10.2006
Kulturbrauerei, F40, Ballhaus Ost, Stadtbad Oderberger Straße

Auffuehrungen von ALICES TRAUM noch bis zum 21.10.2006 und als Wiederaufnahme im Dezember 2006. MAISON DE LA SANTÉ im Répertoire im November 2006. Dies alles in der Fidicinstraße 40, Theater F40.



Kunst + Kultur

Beitrag vom 20.10.2006

AVIVA-Redaktion